„Freiheit, Gleichheit, Nüchternheit“

Zum Zusammenhang von christlichem Glauben und Liberalismus

Die christlichen Kirchen haben im gesellschaftlichen Leben einen wichtigen spezifischen Auftrag, den die Christlichen Liberalen bejahen und unterstützen. Sie sind sich bewusst, dass die grundlegenden liberalen Prinzipien „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Absage an jeden Totalitarismus“ aus der jüdisch-christlichen Tradition hervorgegangen sind und von den christlichen Kirchen tradiert wurden und weiterhin gepflegt werden. Damit sorgt die christliche Verkündigung dafür, dass Rechtsstaat und Gewaltenteilung, die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaats, theologisch gefestigt werden. Den Zusammenhang zwischen der biblischen Botschaft und Grundwerten des Liberalismus wollen wir im Folgenden begründen.

1. Den Mittelpunkt der liberalen Gesellschaftstheorie bildet der Gedanke der Freiheit des Menschen von allen gesellschaftlichen Zwängen. In gleicher Weise steht die Unbedingtheit der Freiheit im Zentrum des Evangeliums Jesu, wobei diese Unbedingtheit stringent von seinem Gottesverständnis, d.h. vom Verständnis seines himmlischen Vaters, her begründet ist. Nach Ansicht des Gekreuzigten und Auferstandenen wäre es grundfalsch, dieser von ihm eröffneten Freiheit die Anerkennung zu verweigern. Den entscheidenden Kern der Verkündigung Jesu hat der Apostel Paulus erfasst, indem er die Freiheit als das wesentliche Zeichen der christlichen Gemeinde hervorhob: „So besteht nun fest in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasst euch nicht wieder zu Sklaven machen“ (Galater 5,1); „Ihr aber. liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen“ (Galater 5,13); „Denn der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (Il Korinther 3,17); „Auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Römer 8,31 ).

Die Freiheit des Evangeliums ist nach Paulus darin begründet, dass Christus das Ende des Gesetzes (Rom 10,4) ist. Weil das Gesetz als Heilsweg nach Kreuz und Auferstehung ausgeschlossen ist, sind alle Menschen davon befreit, auf dem Wege der Gesetzeserfüllung und der eigenen Leistung die Anerkennung vor Gott zu suchen. Die Freiheit vom Gesetz erwächst aus dem inneren Kern der Botschaft Jesu und der Botschaft des Neuen Testaments.

Kirchen- und weltpolitisch bedeutsam geworden ist dieses Verständnis der Freiheit in der „Broad Church Party“ der anglikanischen Kirche, die in diesem Sinne für die Verständigung mit den nonkonformistischen Dissenters und für deren volle politische und gesellschaftliche Anerkennung eintrat. Ihre Repräsentanten gehören damit zu den „Vätern“ der parlamentarischen Partei der Whigs und zu Begründern des englischen Liberalismus, der seinerseits wesentliche Ideen der „Broad Church Party“ einerseits und der nonkonformistischen Dissenters andererseits aufnahm.

2. Eines der größten und bewundernswertesten Ideale der westlichen Zivilisation, der Gedanke der Gleichheit aller Menschen, stammt aus der Philosophie der Stoa. Doch geschichtlich wirksam ist geworden, dass die christliche Kirche diese Vorstellung zu einem wesentlichen Element ihres Selbstverständnisses gemacht hat. Sie, die christliche Kirche, war in allen geschichtlichen Variationen immer davon überzeugt, dass ihre Botschaft die gesamte Menschheit erreichen muss, weil alle Menschen gleich sind. Grundlegend dafür war und ist, dass die Glaubensaussage von der radikalen Gleichheit aller Menschen im Glauben an Jesus Christus (Gal 3,28) das Zentrum der christlichen Ethik geworden ist. Ein geschichtlich wesentliches Zeugnis sind die Mönchs- und Nonnenorden sowie die Beginen, die in ihrem gemeinschaftlichen Leben die Idee der Gleichheit mit Leben erfüllt haben.

Seine erste politische Anwendung fand der Gedanke der Gleichheit aller Mitglieder einer Gemeinde, wie auch Alexis de Tocqueville in „Die Demokratie in Amerika“ hervorhebt, in den puritanischen Siedlergemeinschaften in Nordamerika, in denen die aus England mitgebrachten religiösen und politischen Überzeugungen zum ersten Mal auf der Ebene der Souveränität verwirklicht werden konnten. Damit haben diese „Väter“ nicht nur neue religiöse Vereinigungen, sondern eine neue gesellschaftliche Ordnung geschaffen, Der Grundsatz des römischen Rechts: „Was alle angeht, muss auch von allen genehmigt werden“, wurde in diesem Kontext Realität. In der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 wurde es dann als selbst-evidente Wahrheit formuliert, „that all men are created equal“, dass alle Menschen von ihrem Schöpfer gleich erschaffen sind. Als Bürger eines demokratischen Verfassungsstaats profitieren Liberale von dieser geschichtlichen Entwicklung, die vor zwei Jahrtausenden von der christlichen Kirche unter dem Leitbild der Gleichheit ausging.

3. Die größte Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat bildet heute eine Auffassung, die die durch Freiheit und Gleichheit, d.h. durch Grundrechte, charakterisierte gesellschaftliche Ordnung in einem Nationalstaat mit festen Grenzen aufheben will zugunsten einer moralischen gesinnungsethischen Vision, in der alle Bürger in einer „großen Transformation“ einem einzigen Zweck, der volonté générale und der Solidarität, untergeordnet und dienstbar gemacht werden. Der einzelne Mensch wird in dieser Ideologie nur noch als Mittel betrachtet, um „das Reich Gottes auf Erden“, das „Paradies auf Erden“, die „klassenlose Gesellschaft“ oder ähnliche Utopien zu errichten. Es ist darum auch nicht überraschend, wird aber leider viel zu wenig beachtet, dass Karl Marx in seiner berühmten Schrift „Zur Judenfrage“ den Gedanken der natürlichen Rechte des Menschen grundsätzlich ablehnt. Wenn die gesamte Menschheit sich nach Marx in einem Individuum versammelt, weil in dem einen Individuum sich die gesamte Menschheit vereinigt, ist „die Vorgeschichte“ des Menschen vorüber. Mit ihr sind dann allerdings auch die natürlichen Rechte des Menschen und damit Freiheit und Gleichheit erledigt.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es bedeutsam, dass der Apostel Paulus in einem mehr oder weniger vergleichbaren Zusammenhang zur Nüchternheit aufruft (l Kor 15,34). In dem Kampf gegen den – im Übrigen als Utopie zu bewertenden – Totalitarismus geht es um die Frage, wie wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Die christlichen Liberalen sind davon überzeugt, dass in dieser Auseinandersetzung liberale Parteien und christliche Kirchen Verbündete sein sollten.

(Der Vorstand der Christlichen Liberalen Baden-Württemberg hat am 17. Juni 2022 diese Stellungnahme beschlossen.)