„Jeder Mensch ist Ausländer. Fast überall.“

„Jeder Mensch ist Ausländer. Fast überall.“

(Graffitispruch, Verfasser unbekannt)

O tempora, o mores – Was für Zeiten, was für Sitten! ist man geneigt auszurufen angesichts des nicht zur Ruhe kommen wollenden Flüchtlingsthemas in Europa. Nach Angaben der UNO sind weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Schockstarre bei den Nachrichten und Bildern über das unbeschreibliche menschliche Elend der über das Mittelmeer fliehenden Menschen, die aus den Krisengebieten Afrikas, Syriens und des Irak über Italien und Griechenland nach Mitteleuropa und in die EU gelangen wollen, will sich nicht lösen. Mehr noch: fassungs- und hilflos lassen einen die Bilder von der sich abzeichnenden Tragödie in Calais zurück – Tausende Migranten belagern den Eurotunnel, um nach Großbritannien zu kommen. Polizei und Behörden in Frankreich und England sind völlig überfordert. Originalton David Cameron, britischer Premierminister: „Das Chaos könnte den ganzen Sommer anhalten“. Seine „politische“ Antwort: Abschottung und die Zusage an die französischen Sicherheitsbehörden, Schnüffelhunde zum Einsatz zu bringen und zehn Millionen Euro für die Errichtung eines Hochsicherheitszaunes um den Verladebahnhof von Calais zu zahlen.

Das alles hört sich nach „Heiliger Sankt Florian, verschon‘ unser Haus, zünd‘ andere an“ an. Deutlich wird jedoch an diesem Beispiel, wie sich das Flüchtlingsthema dramatisiert und zugespitzt hat und wie überfordert anscheinend die Politik mit dem Problem ist.

Nach der Genfer UN-Flüchtlingskonvention von 1951 ist Flüchtling, wer aus rassischen, religiösen Gründen, aufgrund seiner Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus politischer Überzeugung in seinem Staat verfolgt wird und sich außerhalb dieses befindet. Fairness und Anstand gebieten es, allen auf der Flucht befindlichen Menschen nicht populistisch-stammtischmäßig andere Motive zu unterstellen, die sie dazu bewegen, aus ihren Heimatländern in die Fremde zu fliehen: Es ist ein Bekenntnis zur Humanität, politisch Verfolgten und an Leib und Leben durch Krieg bedrohten Menschen Schutz zu bieten (Beschluss des Bundesvorstandes der FDP, 17.6.15).
Neben dieser grundsätzlichen Confessio stellt sich allerdings die Frage, wie mit den auch in Deutschland Zuflucht suchenden Menschen umzugehen ist (n.b.: das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rechnet allein für Baden-Württemberg mit einer Verdoppelung der Asylbewerber für 2015 im Vergleich zu 2014. Geschätzte Zahl: über 52.000 Neuanträge). Die Diskussion hierzu hat gerade in den letzten Wochen an Fahrt zugenommen. Stichwort: Braucht das Einwanderungsland Deutschland ein „Einwanderungsgesetz“? Ohne jetzt die kontroversen Positionen in der großen Koalition zu referieren, dürfte es klar sein, dass Deutschland dringend Einwanderer braucht, um die Wirtschaft leistungs- und die Sozialsysteme lebensfähig zu halten (Alterung der Gesellschaft; der Fachkräftemangel in der Wirtschaft. Nach einer im Frühjahr von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichten Studie wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2050 von 45 auf 29 Millionen sinken: „Diese Lücke ist ohne Zuwanderung nicht zu schließen“).

Der Beschluss des Bundesvorstandes der FDP formuliert in fünf Forderungen überzeugend liberale Flüchtlings-, Asyl- und Integrationspolitik – insbesondere unter Punkt 4. „Integration in den Arbeitsmarkt beschleunigen“ wird überzeugend gefordert, dass das Asylrecht an eine qualifizierte Einwanderung gebunden sein soll.

Ein prominenter Flüchtling, der mit seinen Eltern kurz nach seiner Geburt floh und in Ägypten Asyl erhielt, war Jesus: Der Engel des Herrn erschien Josef im Traum und gebot ihm, mit der ganzen Familie nach Ägypten zu fliehen, um den todbringenden Häschern König Herodes‘ zu entgehen. Die Familie flieht, findet in Ägypten Obdach und Asyl – und kehrt nach dem Tod des Herodes nach Israel zurück. Jesus wäre voll und ganz unter die UN-Flüchtlingskonvention gefallen: politisch und religiös verfolgt. Und geradezu zukunftsweisend für jede Asyl- und Flüchtlingspolitik ist der Schritt, den die Familie unternimmt: sie kehrt zurück in ihr Heimatland, nach dem dort „politische Ruhe“ eingetreten ist und die Chancen groß sind, dort in Frieden zu leben.
Punkt 5 des FDP-Beschlusses ist überschrieben: „Veränderungen in der europäischen Flüchtlingspolitik“. Der Anspruch der EU als eine „Wertegemeinschaft“ im Hinblick auf das unsägliche Schlepperproblem wird herausgestellt – aber noch wichtiger: die Forderung wird zu recht erhoben, in den Herkunftsländern muss zuerst eine Fluchtursachenbekämpfung stattfinden, die zu einer (politischen, sozialen und wirtschaftlichen) Stabilisierung dieser Länder führt.
Das ist zurecht als „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu bezeichnen, die das Problem vor Ort angeht und den Menschen die Chance eröffnen könnte, in dem Land bleiben zu können, in dem ihre kulturellen Wurzeln sind.
Man sieht: die EU als „europäische Wertegemeinschaft“ ist kein unbeschriebenes Blatt; ihre Werte sind nicht einfach „neutral“, sondern auch die EU (als Wertegemeinschaft) „lebt und speist sich von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann“. Dies ist das berühmte Diktum des ehemaligen Bundesverfassungsrichters, bekennenden Katholiken und SPD-Mitglieds Ernst-Wolfgang Böckenförde, das dieser zu säkularisierten modernen Staaten sagte – gerade um der Freiheit willen („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“).

Nun denn: Um der „Freiheit willen“ ist auch die Familie von Jesus (und viele nach ihr bis auf den heutigen Tag) ins Asyl geflohen. Die Erinnerung daran sollte bei der erregten und zum Teil auch aufgeheizten politischen Stimmung zum anstehenden Thema nicht aus dem Blick genommen werden.

Jörg Diehl
1. Vorsitzender
Christliche Liberale.- Christen bei den Freien Demokraten Baden-Württemberg e.V.